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nach der gewissheit, vor der paranoia

Hoffnung als Geheimnis

Die heutige Weltlage würde sicherlich ein wenig mehr an Hoffnung vertragen. Also gut, beginnen wir mit den Wundern:

“Wunder aller Wunder, dieses Vorrecht ist uns verliehen, 
Das unglaubliche Vorrecht, das ungeheuerliche,
Lebendig zu wahren die Worte des Lebens,
Mit unserem Blut, mit unserem Fleisch, mit unserem Herzen zu nähren
Worte, die ohne uns hinsiechen würden, entfleischt.”
Charles Péguy: Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung; Freiburg 2007 (1911); S. 75

Dem französischen Schriftsteller Charles Pierre Péguy verdanken wir das obige Zitat und das Buch, aus dem es entnommen wurde: "Le porché vers la deuxième vertu" („Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung“). Nun könnte man vermuten, dass Péguy als christlicher Schriftsteller einfach einen Schritt weiter geht und darauf setzt, dass die Wahrung der Worte des Lebens zugleich den Zugang zum ewigen göttlichen Leben bereiten. Aber so einfach liegt die Sache nicht, denn es geht nicht nur um den Glauben an Gott und um den Glauben an die Wiederauferstehung und um den Glauben an das ewige Leben. Das Buch beginnt mit dem Satz, dass Gottes Lieblingsglaube die Hoffnung sei. Denn die Hoffnung ist ein göttliches Attribut, das den Menschen zukommt und dafür sorgt, dass wir uns nicht der Welt entheben (aber auch nicht in und an ihr kleben). Denn das Unendliche, so Péguy, darf nicht des Endlichen ermangeln, das Vollkommene nicht des Unfertigen (ebda. S. 84 f.). Glaube kann und darf keine Gewissheit sein und die Hoffnung kann nicht umstandslos in ein Jenseits führen. Die Hoffnung muss sich auch in diese Welt einschreiben, oder sie ist Nichts. Der Glaube an die Hoffnung ist der Glaube daran, dass wir mit Blut, Herz und Fleisch die Worte des Lebens und der Liebe materialisieren und lebendig halten können. Und hat dass Christentum nicht seine besten Momente immer dann, wenn es um die Schnittstelle zwischen Körper und Sprache/Geist/Vernunft geht. So sind beispielsweise viele der fraglichen Begriffe im Lateinischen gedoppelt und aufgeladen. Zwischen corpus (eher: in sich geschlossener Körper) und soma (eher: grenzoffener Körper), zwischen ratio (eher: schließender Verstand) und logos (eher: weltbedeutende Vernunft) liegt auch die Glaubensfrage, wie man von hier nach dort kommt und wieder zurück. Also mit Hoffnung!? Das Buch wurde im Jahre 1911 veröffentlicht. Drei Jahre später wurde Péguy als französischer Soldat kurz vor Beginn der Marneschlacht durch einen feindlichen Kopfschuss getötet.  

31. Juli 2025 

Auf was sollen wir noch hören?

Alfred Döblin hatte für die Weimarer Republik die nachhallende Charakterisierung als „Republik ohne Gebrauchsanweisung“ gefunden. Bei Helmut Lethen kann man nachlesen, wie in dieser Zeit sich die Verhaltenslehren der Kälte entwickelt haben (Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994.). Damals hatte sich die Hoffnung auf Evolution und Fortschritt verflüchtigt, der Sinn des Lebens war nur noch ein Schatten seiner selbst und der Verhaltenspanzer bot in seiner sachlichen Kälte Schutz vor Peinlichkeiten, verbarg die Angst, kaschierte die Verletzlichkeit. Der „Desillusionsrealismus“ (Karl Mannheim) brachte den Zusammenbruch sozialer Rollen in Anschlag und konstatierte den fehlenden Handlungsraum. 

In dem Kapitel Phonomanie und Kultur (ebd, S. 222-231) seziert Lethen den Phonozentrismus von Carl Schmitt, zunächst anhand von dessen Tagebuchaufzeichnungen, in denen kaum visuelle Eindrücke auftauchen, dafür aber die „Stimme des Vaters“ hervorgehoben wird. Laut Lethen will Schmitt damit den ihm leidigen Gesetzesbegriff abwehren, der nur eine Überkompensation der Abwesenheit des eigentlichen Souveräns darstellen würde. Stattdessen, so Lethen weiter, soll die Stimme des Souveräns im Schmittschen Universum unmittelbar den Untertanen erreichen. Eine Auslegung, die man nach Lethen auch bei Ernst Jünger in seinem Essay „Der Arbeiter“ nachlesen kann:

"Gehorsam, das ist die Kunst zu hören, und die Ordnung ist die Bereitschaft für das Wort, die Bereitschaft für den Befehl, der wie ein Blitzstrahl vom Gipfel bis in die Wurzeln fährt." 
Ernst Jünger: Der Arbeiter, in: Gesamtausgabe Band 6, Essays II, Stuttgart, Klett-Cotta, 1978, S. 19

Man kann also nicht nur, wie Carl Schmitt es tut, von einer direkten (Befehls-)Sprache sprechen, sondern auch davon, dass diese Art von Direktheit von oben nach unten arbeitet, also keineswegs darauf ausgelegt ist, dass der Sender vom Empfänger eine Rückmeldung erhält oder erwartet. Es ist eine systematische Einwegkommunikation, die dem Empfänger die Möglichkeit lässt, dass er ein stilles Gebet nach oben schickt mit der Hoffnung, dass das alles so seine Ordnung haben möge; der Herr wird’s richten.

Tja, wo die Umstände unklar werden, hören wir die Stimme, insbesondere die selbstgewisse gerne. Oder schon immer? Warum? Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass es mit einer Art Körperauslöschung zu tun hat, mit der Eliminierung des Trägers der Botschaft. Unser Geist ist stumm, die Stimme hat Schall. Aber hören sie selbst:

„Diese unmittelbare Präsenz wiederum rührt daher, daß sich der phänomenologische >Körper< des Signifikanten in dem Augenblick auszulöschen scheint, in dem er hervorgebracht wird.(…) Diese Tilgung des sinnlichen Körpers und seiner reinen Äußerlichkeit ist für das Bewußtsein die eigentliche Form der unmittelbaren Präsenz des Signifikats.” 
Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen: Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S 133 f.

Die Stimme als Pfeil, der unmittelbar in das Herz des Geistes trifft – bevor wir Zweifel an dem haben, was es zu verstehen gibt, meinen wir schon, verstanden zu haben. Das sinnstiftende Subjekt wird durch die Stimme weniger heimgesucht, als immer wieder hervorgebracht.

Umgekehrt könnte man vermuten, dass überall dort, wo die 'Stimme' fühl-, sicht- und hörbar wird, wo Körper und Materie also insistieren, sie nicht umstandslos im Geist mit sich zusammenfallen kann. In der Schrift schreibt sich der Unterschied ebenso mit wie der Aufschub zum nächsten Zeichen, z.B. verschriftbildlicht in der berühmten Derridaschen "différance" (hier kann man an anderer Stelle weiter lesen; vielleicht ist es ein durchgehendes Spannungselement 'der' Philosophie, dass sie die Sinnzuspitzung größtenteils mit Schriftmitteln unternimmt, die diesem Vorhaben nicht nur im Wege stehen, sondern zu 'Umwegen' führen - müssen). Und auch der organisierte Klang der Musik, mit Instrumenten erzeugt und strukturiert durch Elemente wie Rhythmus, Melodie, (Dis)Harmonie, Klangfarbe, Lautstärke etc., entzieht sich einer eindeutigen Festschreibung, obgleich niemand sagen würde, dass Musik deshalb bedeutungslos ist.

Wie anders die Befehlsstimme des Souveräns, seit jeher verkörpert durch Herrscher und Väter. Hier spricht die Autorität nicht nur die Wahrheit, sie befiehlt sie, öfters auch fürs Vaterland. Nun ist nicht jede Autorität (stimmlich) autoritär, was auch besagen könnte, dass Souveränität und Autorität sich keineswegs aus einer Quelle speisen. Insofern ist Aufmerksamkeit geboten, wenn in diesem Kontext das Register vom Vater auf die Mutter wechselt. 

Auf die Frage „Was heißt Denken?“ warnt Martin Heidegger im 5 Abschnitt seiner gleichnamigen Vorlesung aus dem Wintersemester 1951/52 davor, die Frage (also: "Was heißt Denken", auch in seiner doppelten Bedeutung: 1. was 'ist' denken und 2. was 'verheißt' Denken) in Form einer Formel beantworten zu wollen. Es heißt dann:

„‘Warte, ich werde dich lehren was gehorchen heißt‘ – ruft die Mutter ihrem Buben nach, der nicht nach Hause kommen will.“ (S. 29)
Martin Heidegger: Was heißt Denken? Vorlesung Wintersemester 1951/52, Nachdr.; Reclams Universal-Bibliothek; Reclam: Stuttgart, 2013.

Hat Heidegger hier etwas anderes im Sinn als Anweisung und Gehorsam, zumal einige Menschen behaupten würden, dass Heidegger zu einer bestimmten Zeit für den Ruf der völkischen Stimme durchaus offen war (was so nicht richtig ist)? Aber: hier geht es nicht um den Vater und das Vaterland, sondern um die Mutter (und um die Muttersprache; und um den Sohn). Heidegger insistiert, dass die Mutter hier weder eine Definition von Gehorsam noch eine Lektion gibt, sondern den Sohn ins Gehorchen bringen will. Aber worin besteht nun der Unterschied zwischen Befehl und Befehlsunterwerfung und dem "ins Gehorchen bringen" und "Gehorchen". Heidegger schreibt zum 'ins Gehorchen bringen':

„Dies gelingt um so einfacher, je unmittelbarer die Mutter den Sohn ins Hören bring.“ 
(Ebda, S. 29)

Offenbar lässt sich diese Art von "Hören" nicht befehlen, wenn man hier nicht unterstellen will, dass die Unmittelbarkeit doch mit einer Art von "schimpfender Gewalt" verknüpft sein soll. Aber nein, Heidegger betont, dass es hier keineswegs ums Schelten geht. Aber was heißt dann Hören, was heißt: auf etwas hören (und mittelbar: Denken)? Heidegger spricht davon, dass der Empfänger hörend geworden ist für das, wohin sein Wesen gehört. Haben wir hier also ein Schlüssel-Schloss-Prinzip vor uns? Aber es wird zunächst nicht behauptet, dass der Empfänger nun weiß, wohin sein Wesen gehört. Vielleicht könnte man eher sagen: der Empfänger ist nun offen, um zu hören. Aber auf was? Um beim Beispiel zu bleiben: der Bube hört, dass er nach Hause kommen soll. Weil sein Wesen nach Hause gehört? Wenn man hier eine Pointe einbauen wollte, könnte man fragen: nach Hause (der Kaulauer: telefonieren)? Vielleicht: Muttersprache oder doch Vaterland? Und könnte man in einer weiteren Wendung im freudschen Sinn nicht auch noch die Terme verdrehen - Mutter (symbiotische Bindung) oder Vater (kastrationsdrohende Entbindung)? Oder müsste man, einer dialektischen Versuchung widerstehend und in größter Überstürzung, von einer entbindenden Bindung und bindenden Entbindung sprechen? Und führt diese zum Hören und hört man dann viele Stimmen? Wie immer: falls es einen Sinn gab, schiebt er sich auf.

30. Juni 2025 

Photoshop-Effekte Gottes

In seinem Buch "Schattenseiten. Vom Bösen und Negativen (Berlin 2005)" entwickelt Francois Jullien die These, dass das Böse böse und dass das Negative die Kraft ist, die böse aussieht und doch das Gute schafft. Man solle das Negative und das Böse also nicht verwechseln. Des Weiteren präsentiert er die Idee, dass Gott als Künstler die vielen Schattenspiele und Schattenseiten braucht, um seine Schöpfung schöner strahlen zu lassen. Ist damit die Frage der Theodizee nicht ästhetisch beantwortbar?

Also Theodizee-Antwort: Von welchen Schlimmigkeiten die Welt auch heimgesucht wird, sie sind der Preis, um dem Gemälde der Schöpfung mehr Tiefe und Kontur geben zu können - die Photoshop-Effekte Gottes: Schatten nach Innen / Abgeflachte Kante und Relief / Schlagschattten; wenn’s gut läuft: Glanz. Draußen stürmt es, das Meer versucht Deiche zu überspringen, Wind den Dächern etwas Haut abzugewinnen, der Fluss die Ufer zu stürmen und dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut.

29. Mai 2025

Rechtsdrehend ohne Religion – Teil 2

Omega

Und die Religion?

Hannah Arendt betonte, dass der Sinn von Politik, jenseits von funktionalen und moralischen Verengungen, die Freiheit ist. Nun ist Freiheit kein Begriff, der zum Kernbestand religiöser Diskurse gehört. Die Religion bindet, sie verspricht Zugang zum Heilen und Heiligen, sie trägt ein Versprechen auf Erlösung. Doch politische Freiheit (und gibt es eine andere) erlöst nicht. Sie ist als eine Möglichkeit eines anderen In-der-Welt-Seins ‚co-präsent‘. Haben die Tumult-Texte also Recht (siehe: Rechtsdrehend ohne Religion – Teil 1): Religion gehört nicht ins politische Geschäft, ist ein Atavismus und fixiert und blockiert Energien. Also ein mehr oder minder gefährlicher Kinder-Glaube?

Andererseits wird man kaum übersehen können, dass der Totalitarismus ein modernes Phänomen ist und in seiner sachlichen Unerbittlichkeit (Arendt veranschaulichte dies mit den Sprichwörtern: wer A sagt, muss auch B sagen; wo gehobelt wird, da fallen Späne) die Shoah, das industrielle Töten und unermessliches Leid hervorgebracht hat. Scheinbar kann die moderne politische Sphäre nicht nur Freiheit generieren, sondern auch einen zugespitzten Dezisionismus, der bisweilen nicht nur meint, die Wahrheit zu besitzen, sondern diese auch ins Werk setzen zu können. Wäre die Religion ein Korrektiv gegen solch eine Souveränitätshybris, gegen den Willen zur absoluten Immanenz? Hannah Arendt hat betont, das genuin politisches Handeln kein souveränes Handeln sein kann (also auch kein immanentes Handeln), weil im Zwischenraum der pluralen menschlichen Bezüge kein Kalkül durchzuregieren vermag. Erst der Verfall dieses gemeinsamen Zwischenraums eröffnet den direkten Weg von A nach B (wie eben in all jenen Bereichen, die unter dem Primat der Funktion, der Moral, der Gewalt stehen).

Also: gibt es eine Beziehung zwischen Religion und dem (emphatisch verstandenen) Politischen, die man produktiv nennen könnte? Zu groß die Frage für einen kleinen Text. Also hier in aller Kürze nur einige Aspekte. Zunächst: Das Christentum (also eine spezifische Religion) ist ganz sicher auf Engste, wenig überraschend, mit dem Abendland verknüpft. Man denke an das geschichtsprägende Moment des christlichen Kaisertums, das in der widerstrebenden Fügung der zwei „Königs-Körper“, göttlich – weltlich, das Böse aufzuhalten versuchte (Stichwort „Katechon“ > siehe auch: https://www.schwingungsbreite.de/search/Katechon). Athen – Jerusalem: Hier ‚verbindet‘ sich nicht nur Vernunft und Glaube, sondern diese Beziehung wird in Spannung gehalten. Schiebt man noch Rom dazwischen = Vernunft - Recht - Liebe, so ist man schon nah an der französischen Revolution: Liberté, Egalité, Fraternité“, auch wenn im Frankreich der Revolutionsjahre die Religion auf allen Ebenen eliminiert werden sollte (ein sicheres Zeichen dafür, wie mächtig das Christentum auch als ‚geistiges Fundament‘ noch weiterwirkte). ‚Führt‘ also, um das Fundament zu erweitern, das Judäo-Christentum zu den demokratischen Revolutionen, um dann langsam zu verlöschen. Man muss nicht lange suchen, um diese Art von Aufklärung insofern zu begrüßen, als dass der Wahrheitsanspruch der Religion mit ihrer Intoleranz und Gewalt zu einigen Massakern und Inquisitionen geführt hat, die wenig mit Liebe oder mit Freiheit zu tun gehabt haben dürften. Ist diese Art von Onto-Theologie also eher Teil des ‚Problems‘ denn Teil der ‚Lösung‘? Aber man kann auch umgekehrt argumentieren, wie es Gianni Vattimo in seinem Essay „Die Spur der Spur“ tut, und die Überwindung der Metaphysik aus einer neutestamentarischen Herkunft herleiten (Vgl: Derrida, Jacques, und Gianni Vattimo. Die Religion. Berlin: Suhrkamp, 2017.). Demnach geht es nicht um eine Rückkehr zu den Fundamenten, sondern darum, im Sinne der Evangelien die Zeichen der Zeit zu deuten (Ebenso wie es im Judentum bei der Schriftauslegung darum geht, das Wort Gottes für die Menschen zu deuten, nicht um Unterwerfung unter die Schrift. Warum der Islam, als jüngste der drei abrahamitischen Religionen, sich der Hermeneutik der Schrift und des Lebens eher verweigert ….). 

Doch: kann man die Himmelsleiter, so sie ihren Dienst, also die Rückkehr zur Welt, getan hat, nicht einfach fortwerfen? Hat sich die Spannung gelöst und der König (und die Welt) braucht keine zwei Körper mehr, weil es keine Könige mehr gibt? Vermutungsweise: Die Spannung arbeitet produktiv und in Latenzen dort weiter, wo sich Widerstand gegen die Immanenz einer politischen Lage / Entscheidung formt. Erstes Zeichen: der Zyklus der Zeit, der ewige Kreislauf und die Wiederkehr des Immergleichen ist durch das Judentum / Christentum unterbrochen worden. Geschichte beginnt als Geschichte. Die sich daran anschließende Idee des Fortschritts, als säkularisiertes Erlösungsversprechen hat sich jedoch längst desavouiert, so dass Walter Benjamin seinen Engel der Geschichte in der Rückschau nur auf die Trümmer unseres Tuns, auf die mannigfaltigen Katastrophen blicken lassen kann. Es bleibt jedoch die, wenn auch schwache messianische (und liebende) Kraft, die sich als heilsame und gutmachende Unterbrechung ereignen kann (‚gegen‘ den ‚reinen‘ Willen der Macht und der Entscheidung). Nochmals vermutungsweise: die Autoimmunität des Jüdisch-Christlichen – der eigene Selbstschutz, die eigene Immunität, die eigene Identität wird unterlaufen, um sich dem zu öffnen, was immer mehr ist als die religiöse Gemeinschaft selbst: Öffnung zum Tod, zum anderen (auch und gerade weil zugleich das Heile, das Heilige, das Erlösende, die Wahrheit der Erlösung versprochen wird). Und vielleicht hat diese Autoimmunität, als opferhafte Selbstzerstörung gegen einen zu umfassenden Selbstschutz, immer auch ein haltendes Moment, sofern sie jene adressiert, die nicht ‚dazugehören‘, die nicht in dem Luxus einer selbstgewissen Identität zu leben glauben (wie überall besteht auch hier die reaktive Möglichkeit, die Autoimmunität wieder zu einem ‚Programm‘, zu einer Ideologie zu machen, um sie wiederum ‚aufzuheben‘).

Und nun? Egon Flaig hat sicherlich Recht, wenn er mit Böckenförde die Religionsfreiheit dort enden lässt, wo die Staatsexistenz gefährdet ist. Aber gilt das zum einen nicht für alle politischen Strömungen, die beginnen jenseits der Verfassung zu operieren. Und zum anderen bietet die Religion einen Ort, von dem aus, zur Verhütung des Schlimmsten, sich politischen Allmachtansprüchen entgegengestellt werden kann (und – siehe die Frage der Autoimmunität -auch innerkirchlichen Übergriffen). 

Hingegen überspringen die von Rudolf Brandner mit dem Religiösen in Verbindung gebrachte Immunisierungstendenzen m.E. zum einen die Spannungsverhältnisse innerhalb (hier) des Christentums (ebenfalls Stichwort: Autoimmunität) und blenden die totalitären Versuchungen moderner politischer Räume aus, auch wenn man ihm zustimmen muss, dass Ursprünge des und ‚Schranken‘ gegen den Totalitarismus sicherlich nicht in moralischen Kategorien gefunden werden können. 

Bei Thilo Sarrazin liegt sicherlich die anspruchsloseste Verwerfung des Religiösen vor. Die Kritik an einem ideologischen Islam mag richtig sein. Die Überweisung der Sinnfrage an die Naturwissenschaft ist schon ein sehr kühner Buchhaltungstrick. 

Also: vielleicht muss man die oben aufgeführten spezifisch religiösen Momente eher in einem vorpolitischen Raum ansiedeln: Doch was wären wir: ohne Hoffnung, ohne Ereignisse, ohne Zweifel, ohne Haltgebungen (mit all den fortlaufenden Aporien). Oder anders herum gefragt: läuft ein politischer Diskurs ohne die Mitartikulation dieser Latenzen nicht Gefahr, eindimensional und blind, verhärtet und schließlich zynisch zu werden.

30. April 2025

Rechtsdrehend ohne Religion – Teil 1

Alpha

Politisch Rechts hat scheinbar nichts mehr mit der Bewahrung der Schöpfung, mit Fortschrittsskepsis, mit Leistungsgerechtigkeit, mit der politischen Nation oder mit Demut zu tun, sondern bedeutet heute: völkisch, fremdenfeindlich, autoritär oder rechtsextrem zu sein. Wie anders ist es zu erklären, dass Aktivitäten wie 'Laufen gegen Rechts', 'Omas gegen Rechts' oder 'Demos gegen Rechts' eine selbstverständliche und begrüßenswerte Sache sind, weil man schließlich gegen das Böse anläuft und ankämpft.

Für alle, die sich beim betreuten Denken unwohl fühlen – und um nicht missverstanden zu werden: die umfangreichste Betreuung beim Fortlauf von eingefahrenen Denkweisen leistet das eigene ICH -, ist die Beleuchtung von Sachverhalten aus verschiedenen Blickwinkeln, also die Pluralität der Informationen und Meinungen, hilfreich. Die Zeitschrift TUMULT, die sich selbst im Untertitel „Vierteljahresschrift für Konsensstörung“ nennt und die man dem rechten Spektrum zurechnen kann, so man solche Etiketten braucht, leistet diesbezüglich ihren Beitrag.

So schreibt Egon Flaig eine Meditation über den ukrainischen Unabhängigkeitskampf, der mit „Zur sinnstiftenden Kraft eines Krieges“ betitelt ist (TUMULT, Frühjahr 2025, S. 9-19). Schon leuchten die humanistischen Alarmglocken. Welcher Sinn soll sich im Krieg und in der Gewalt offenbaren? Die großen modernen Zivilisationsanstrengungen, manche würden sagen: Errungenschaften, laufen doch darauf hinaus, den Tod zu ‚mildern‘, gar zu besiegen (schwierig) oder ihn zu verdrängen (geht gerade so). Jetzt ist er also wieder (selbst in Europa) da und soll auch noch Sinn stiften. Nun wurde der Ukraine der Krieg aufgezwungen, worin Flaig insofern auch eine Chance sieht, als dass er von einem ‚gründenden Krieg‘ spricht und darüber, dass die Ukrainer für diese Gründung einstehen und bereit sind, das Äußerste einzusetzen, sich zu opfern, und dabei auf Partialinteressen weitestgehend zu verzichten. Nach Flaig gibt es jedoch das Problem, dass ein Großteil der Wehrfähigen entweder nicht eingesetzt wurden (erst im April 2024, so Flaig, wurde das Rekrutierungsalter auf 25 Jahre herabgesetzt) oder sich den Kampf durch Ausreise entzogen haben, was sowohl unter militärischen (Soldatenknappheit), als auch unter mentalen Gesichtspunkten (nämlich für die ‚Dagebliebenen‘ und für eine Nachkriegsordnung) eine Katastrophe ist (was Flaig hier mit ‚leichter Hand‘, wenn auch unter sachlichen Gesichtspunkten vielleicht richtig, skizziert, mag die Anmerkung erlauben, dass aus dem Rentenwohnzimmer sich über die Söhne anderer Mütter gut verfügen lässt). Zudem fügt er hinzu, dass die (zunehmende) ukrainische Diskriminierung der russischen Sprache und Kultur (so sollen u.a. Puschkin, Dostojewskij, Tolstoj und Bulgakow aus den Lehrplänen gestrichen werden), ja der Hass darauf, in die Unfähigkeit münden würde, Dissens auszutragen, womit ein Baustein der abendländischen Kultur verraten würde. Ganz anders sieht Flaig nun das Verbot der russlandnahen orthodoxen Kirche (OUC, vom Patriachen Konstantinopels als autokephalse Kirche anerkannt), die 2024 von der ukrainischen Regierung verboten wurde. Mit Bezug auf Ernst-Wolfgang Böckenförde konstatiert er, dass die Religionsfreiheit dort endet, wo die Staatsexistenz auf dem Spiel steht. Während also die Kulturpluralität für Flaig zum Kernbestand des demokratischen Abendlandes gehört und auch im Krieg bewahrt werden sollte, muss sich die Religion im Zweifelsfall der Staatsraison unterordnen.

Der allseits bekannte Volkswirt und Ex-SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin erläutert in seinem Text „Schleichende Landnahme“ (TUMULT, Frühjahr 2025, S. 21-23), „Warum gegen das Vordringen von Islam und Islamismus in Deutschland und Europa kein Kraut mehr gewachsen ist“, so der Untertitel. Der Text schwankt in seiner Tonart zwischen Nüchternheit und Defätismus, ja Kapitulation. Am Ende heißt es, dass man als Minderheit im eigenen Lande kleinere Brötchen backen muss. Zuvor erläutert Sarrazin, dass er den Islam aus zwei Gründen abstoßend (1. Verachtung aller ‚Ungläubigen‘ 2. (sexuelle) Rolle der Frau) und aus einem weiteren Grund gefährlich findet (der Islam stünde der Legitimation demokratischer, säkulärer Gesellschaften eher ablehnend gegenüber). Als kleine Parenthese führt Sarrazin aus, warum in aufgeklärten Zeiten es überhaupt keinen Religionsbedarf mehr geben sollte: „Die Suche nach Gott und dem Weltsinn wurde in diesem Sinne abgelöst durch die Bemühungen der Physiker um die Erforschung des Urknalls und die Überführung der Naturgesetze in stets allgemeinere Formeln.“ (ebda. S. 22). Etwas paternalistisch heißt es weiter, dass die meisten Menschen das nicht verstehen würden, noch emotionale Befriedigung daraus ziehen könnten.

Einen Aufsatz weiter gibt Rudolf Brander seinen Text den Titel „Der Weg in die Auschwitz-Religion“ “ (TUMULT, Frühjahr 2025, S. 25-27). Seine Kernthese lautet: Auschwitz wird als Symbol einer theologisch aufgeladenen Schuldkultur genutzt, um in einer Intensivierung des Negativen die Erlösungsbedürftigkeit durch umfassende Ergriffenheit in eine absolute Unterscheidung von Gut und Böse zu kanalisieren. Was dabei auf der Strecke bleibt, so Brandner, ist die Thematisierung der geschichtlichen Realität (Stichwort: Spielräume des Verstehens). Resultat ist u.a. ein Schuldtransfer vom politischen Subjekt auf die Allgemeinheit („Tätervolk“), mit der Folge, so Brandner, dass alle Schuld von der Politik ans Volk delegiert werden würde. Für Brander handelt es sich um ein modernes Beispiel eines größeren Zusammenhangs, nämlich des unbewältigten religiösen Negativismus von Jahrtausenden: Das unerlöste moderne Subjekt, so Brandner, verwendet seine durch den Gottesverlust freigesetzten Psychoenergien, um sich in einem pseudosakralen Akt einem Heiligen (als Maßgebendes, als Unhinterfragbares) zu unterwerfen. 

Man wird den drei Text wohl keinen Zwang antun, wenn man sie religionskritisch nennt, auch wenn die Religion nicht, wie bei Flaig, Hauptthema sein mag. Für Flaig hat die politische Sphäre - und im Ausnahmezustand ist das vor allem der Staat und die Nation – Vorrang gegenüber der Religion, insbesondere dann, wenn die Sphärenteilung von Seiten der Religion in kritischen Phasen unterminiert wird. Mag die Religion, und sei es als kulturelle Praxis, von jeher ein politischer Faktor sein, so ‚darf‘ sie jedoch nicht den Platz der Macht für sich beanspruchen oder die politische Sphäre auflösen wollen oder an seiner Auflösung beteiligt sein, so das politische Argument. (Dabei gab es Christentum es seit jeher eine Thematisierung dieser Sphären-Spannung und -Trennung, heißt es beispielsweise im neuen Testament: "Da sprach Jesus zu ihnen: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" (Mark. 12, 17). Das politische Argument gilt für demokratisch verfasste Staaten, sofern in autokratischen Regimen von jeher keine Rücksicht auf kritische Positionen genommen wird, die das Zentrum der Macht in Frage stellen. Der Unterschied also: im ersten Fall geht es um die Infragestellung des politischen Raumes, im zweiten Fall um die des Machthabers.).

Thilo Sarrazin beschäftigt sich in seinem Text mit dem Islam, von dem die „Sphärentrennung“ allem Anschein nach nicht akzeptiert wird und der in Deutschland / Europa immer mehr Zuwachs findet. Für Sarrazin ist diese Religion gefährlich, weil in ihr die religiöse Legitimität Vorrang vor einer demokratisch legitimierten Verfasstheit hat. Insofern folgt er hier Flaig / Böckenförde. Wie das Sphärenverhältnis bei anderen Religionen sich darstellt, wird hingegen nicht weiter erläutert. Für Sarrazin ist dies auch nicht wichtig, weil moderne Gesellschaften säkularisierte Gesellschaften sind und für ihn Religionen einen Atavismus verkörpern, die Sinnfragen stellen und -antworten geben, die als naturwissenschaftlicher Sicht überholt seien.

Schließlich Rudolf Brander. Sein Text führt eine neue Religion schon im Titel: Auschwitz-Religion. Die Funktion dieser ‚Religion‘ liegt nach Brandner in einer Immunisierungs- und Haltgebungsstrategie (gegenüber den Maßlosigkeiten liberalistischer Gesellschaften). Der Vorwurf lautet, dass dies auf Kosten einer offenen geschichtlichen und politischen Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus und dem industriellen Massenmord gehen würde. Darüber lässt sich streiten, wobei die ‚Zulässigkeit‘ des Streits selbst schon ein Teil der Auseinandersetzung sein dürfte (aber im Politischen gibt es keine Metaebene, aus der sich solche Fragen ‚wahrheitsgemäß‘ beantworten ließen, nur rechtlich/moralische Grenzen, die wiederum …). Aber Brandner gibt auch einige generelle Hinweise zu seinem Religionsverständnis. Religion, so Brander, hat immer eine Sakralisierungsfunktion, die etwas als heilig und unberührbar erklärt und vor dem sich alle menschliche Negativität zurücknehmen muss. Dieses Ansichhalten der Negativität / des Mangels, dieser Selbstverzicht wiederum entfaltet, so Brander weiter, die Heilswirkung als ein religiöses Versprechen. Damit nichts ins Rutschen kommt, strebt das religiöse Bewusstsein nach absoluter Fixierung, nach einem Dogma, das von Anderen nicht in Frage gestellt werden darf, führt Brander weiter aus. Dabei scheint es so, als ob Brandner einer „Negativitätsgeschichte“ nachgehen würde - die Negativität (der Mangel) als anthropologische Konstante -, die in der Moderne seine Zuspitzung fände und zwar wie folgt: Seit Jahrtausenden gibt es einen unbewältigten religiösen Negativismus, d.h. Fixierung von Psychoenergien und Blockierung anderer ‚Antworten‘ auf die Negativität. Diese Energien werden in der Moderne durch den Gottesverlust freigesetzt und finden u.a. Bindung in defizitären Ersatzreligionen. Daraus ergibt sich natürlich die Frage, ob die Totalitarismen ebenfalls als Ersatzreligionen im oben genannten Sinne fungiert haben (polemisch könnte man Fragen, ob die Auschwitz-Religion strukturell identisch mit der Hitler-Religion ist?). Die nächste Frage wäre, ob es denn eine richtige oder bessere (politische) Form gibt, mit der sich Negativität bearbeiten und ‚gestalten‘ ließe – aber das greift über den Text-Anlass hinaus.

Im Unterschied zu einem modernistisch geprägten Immanenzdenken tauchen in den Texten geschichtlich erfahrbare Momente der Teilung, der Gefährdung, des Antagonismus und der Negativität auf. Die Realität schaut uns ins Gesicht. Und je mutiger man zurückblickt, umso mehr wird deutlich, wie sehr jene gutgemeinten Diskurse, im Versuch eine negativitätsfreie Welt zu gestalten, sich immer weiter von dieser Welt entfernen.
Und die Religion?

30.März 2025

Das Leben überziehen

In einem kleinen, sehr informativen und unterhaltsamen Buch spricht Valentin Groebner vom Lieblingspulloverparadox. Durch den Gebrauch verliert der Pulli seine Perfektion, während der Nicht-Gebrauch das Ding in die Umlaufbahn der dunklen Welt-, Gebrauchs- und Wertlosigkeit katapultiert (Valentin Groebner: Aufheben, wegwerfen: vom Umgang mit schönen Dingen. Essay. Göttingen: Konstanz University Press, 2023). So das Leben: der Exzess des zu feiernden Augenblicks verkürzt die Lebenskerze rasch, während die gewissenhafte Arbeit in die Langeweile des gewöhnlichen Lebens zu münden droht. Und: die akademische Fingerübung ist nicht der Einsatz, der das fahrende Volk, so Daniel Kehlmann in einer Reflexion über das Künstler-Sein in seinem Tyll-Roman, tagtäglich setzen muss, um leben zu können. Lakonisch heißt es, 'so ist das jetzt', und: 'dafür seid ihr frei'. 

27.Februar 2025